Dass wir überhaupt das Risiko eingehen, uns mit einem anderen Menschen sexuell einzulassen, hängt entscheidend von verschiedenen Hormonen und Neurotransmittern ab. Es sind die Androgene beim Mann und der Frau – insbesondere das Testosteron – welche darüber entscheiden, ob es überhaupt zu einem sexuellen Impuls kommt. Man unterscheidet drei Motivationen, warum wir überhaupt Sex haben: 1. Die Lustdimension (neurobiologisch verankert und hormonell gesteuert), 2. Der Fortpflanzungswunsch und 3. Der Wunsch nach emotionaler Nähe, Bindung und Partnerschaft.
Eine sexuelle Störung liegt vor, wenn die von einem Menschen gewünschte und ersehnte Sexualität derart von der real gelebten Sexualität abweicht, dass der Mensch darunter leidet. Sexualstörungen haben häufig nicht eine einzige Ursache, sondern sind bedingt durch das Zusammenwirken biologischer, psychologischer, partnerschaftlicher und soziokultureller Faktoren.
Neben Störungen der Geschlechtsidentität und Störungen der sexuellen Präferenz (Paraphilien) sind sexuelle Funktionsstörungen die mit Abstand häufigste Gruppe der sexuellen Störungen, um die es hier geht.
Sexuelle Funktionsstörungen zeigen sich in Beeinträchtigungen des sexuellen Erlebens und Verhaltens in Form von ausbleibenden, reduzierten oder unerwünschten genitalphysiologischen Reaktionen. Zu den sexuellen Funktionsstörungen werden Störungen des Begehrens (sexuelle Appetenz), Störungen der Befriedigung sowie Schmerzen im Zusammenhang mit dem Geschlechtsverkehr gezählt. Hierzu gehören die Erektionsstörung (erektile Dysfunktion) beim Mann, aber auch Begehrensstörungen sowie Orgasmusstörungen bei Mann und Frau.
Sexuelle Funktionsstörungen betreffen alle Altersgruppen und Männer wie Frauen. In einer zuverlässigen Befragung einer repräsentativen US-amerikanischen Bevölkerungsstichprobe (NHSLS-Studie, Laumann et al., 1994) gaben insgesamt 43% der Frauen und 35% der Männer an, im Jahr vor der Befragung unter signifikanten, mindestens mehrere Monate bestehenden sexuellen Funktions- bzw. Begehrensproblemen gelitten zu haben!
Bei den Frauen stellen Probleme des sexuellen Begehrens die mit Abstand bedeutsamste Dysfunktion dar, während bei den Männern die Störung mit der höchsten Prävalenz, der vorzeitige Orgasmus (Ejaculatio praecox), viel seltener zur Inanspruchnahme professioneller Hilfe führt als die Erektionsstörung. Diese stellt aber aufgrund ihres engen Zusammenhangs zu anderen Krankheitsbildern (Diabetes, Hypertonus, koronare Herzkrankheit, neurologische Krankheiten) die bedeutsamste Störung des Mannes in der Praxis dar. In Deutschland ist derzeit von ca. 5 Millionen erektionsgestörter Männer auszugehen.
Bei der Entstehung sexueller Funktionsstörungen spielen psychische Faktoren (Persönlichkeit, Sexualpräferenz, Geschlechtsidentität, Biographie, Lerngeschichte, psychische Erkrankungen), biologische Faktoren (Medikamente, Hormone, körperliche Erkrankungen) und soziale Faktoren (Stressoren in Partnerschaft, Beruf, Umfeld) eine wesentliche Rolle. Diese Faktoren gilt es individuell im Rahmen eines ganzheitlichen Verständnisses zu gewichten. Konkret müssen neben Medikamentennebenwirkungen und körperlichen Erkrankungen, wie Krebserkrankungen und -Operationen, ebenso einbezogen werden sowie beispielsweise eine Depression, Angststörung oder andere psychische Erkrankungen als häufige »Lustkiller« sowie soziale Stressoren erkannt und entsprechend in die Behandlung integriert werden.
Sexuelle Gesundheit ist untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden. Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt (WHO Definition 2006).
Verschiedene Studien haben gezeigt, dass ein enger Zusammenhang zwischen sexueller Gesundheit und der allgemeinen Lebenszufriedenheit besteht:
Im Rahmen von therapeutischen Erstgesprächen – in der Einzel- oder Partnersituation – können weibliche oder männliche Sexualmythen korrigiert werden. Paarinterne und paarexterne Stressoren (Kinder, Schwiegermutter, Arbeitsplatzkonflikt u. a.) können thematisiert und Lösungsvorschläge erarbeitet werden.
Die Sexualtherapie im engeren Sinne besteht in der Kombination von
1. systematisch aufgebauten, therapeutisch angeleiteten sexuellen Erfahrungen im Paar
2. einer psychotherapeutischen Bearbeitung der intrapsychischen und partnerschaftlichen Einflussfaktoren der sexuellen Störung.
Grundprinzip wirksamer psychotherapeutischer Veränderungen ist dabei die Anregung gewünschter, korrigierender emotionaler Erlebnisse im Paar.
Die klassischen verhaltenspsychologischen therapeutischen Interventionen zielen primär auf den Abbau von Angst, die Reduzierung von Leistungsdruck, Kommunikation und Entspannung. In modernen lösungs- und ressourcen-orientierten Ansätze der systemischen Paar- und Sexualtherapie geht es zusätzlich um den lösungsorientierten Aufbau sexuellen Begehrens, sexueller Erregung und Motivation.
Die Daten zur Effizienz der Sexualtherapie zeigen, dass bei ca. 2/3 der Patienten(paare) nach Therapieende eine signifikante Symptomverbesserung erzielt werden kann. Prognostische Faktoren für einen Therapieerfolg sind: 1. Der sozioökonomische Status, 2. die Qualität der Paarbeziehung, 3. das sexuelle Interesse der Partnerin und 4. eine frühe aktive Mitarbeit beider.